Krakau, die heimliche Hauptstadt Polens, lockt jedes Jahr Millionen von Touristen in seine historischen Stadtviertel, auch wegen seiner langen jüdischen Geschichte. Heute ist nur noch wenig vom einstigen jüdischen Leben geblieben und trotzdem zehrt die Stadt noch immer von der Erinnerung an die Juden, die diese Stadt zu einer der bedeutendsten jüdischen Gemeinden Europas machten.
Etwa ein Viertel der Bevölkerung Krakaus war vor dem Zweiten Weltkrieg jüdisch. Wer es sich leisten konnte, lebte in dem historischen Stadtzentrum, doch der Großteil von ihnen bewohnte die ärmlicheren Häuser im Stadtteil Kazimierz.
Im ehemaligen galizischen Teil Polens existierten bis zum 2. Weltkrieg etwa 400 jüdische Gemeinden unter der Herrschaft Österreich-Ungarns. Hier besaß die jüdische Bevölkerung weitreichende bürgerliche Freiheiten, welche es nicht in diesem Ausmaß in den anderen besetzten Teilen Polens gab. Zwar war der ehemalige galizische Teil Polens von großer Armut betroffen, der „bieda galicyjska“- galizischen Armut, trotzdem ist diese Zeit noch immer den jüdischen Bürger in guter Erinnerung geblieben.
Diese verhältnismäßige Freiheit für Juden in Galizien führte dazu, dass sich hier in Städten wie Lwów / Lemberg, Kraków / Krakau oder etwa auch Tarnów / Tarnow bedeutende jüdische Zentren entwickeln konnten und bis heute viele Spuren hinterließen. Dieses Erbe hat bis heute überlebt und man findet noch immer Orte, an denen die Geschichte neu ansetzt und jüdische Traditionen fortgesetzt werden.
Unweit von Kraków / Krakau in der Stadt Tarnów / Tarnow hat sich abseits von den großen touristischen Massen ein Nachkomme Tarnower Juden niedergelassen und führt hier das einzige koschere Restaurant außerhalb Krakaus. Im „The Nosh“ kann man neben Falafel und Hummus in einem Plausch von dem aus den USA stammenden Besitzer seine Geschichte und die vieler anderer Tarnower Juden erfahren.
In einem Alter, indem bereits andere Menschen über den Ruhestand nachdenken, entschied sich der Besitzer Gerry dazu, Tarnów / Tarnow um ein koscheres Restaurant zu bereichern.
Dies ist oft die einzige Möglichkeit für praktizierende Juden sich außerhalb von Kraków / Krakau zu versorgen. Seitdem lädt Gerry seine Gäste nicht nur zum Essen ein, sondern auch dazu, mehr über sich und seine neu gefundene jüdische Heimat in Polen zu erfahren.
Aber wieso sind solche Geschichten so herausragend und noch immer so selten in Polen?
Einst lebte in Polin (jiddisch Bezeichnung für Polen, übersetzt: rastet / ruht hier) die größte Gemeinde Europas, die den Juden Zuflucht vor Pogromen in Westeuropa bot. Heute aber gehört sie zu den kleinsten auf dem Kontinent.
Viele Geschichten von Flucht, Überlebenskampf und einem Leben in ständiger Unsicherheit sind tief in vielen Familiengeschichten bis heute verwurzelt. Daher sind es junge Menschen aus Israel, den USA, Brasilien oder anderen Teilen der Erde in der dritten oder vierten Generation nach dem Holocaust, die in ihre alte Heimat zurückkehren. Man trifft sie in Cafés in Kazimierz, dem JCC (Jüdische Gemeindezentrum) oder auch in Lesungen im Galicia Jewish Museum. Es sind diese jungen Menschen, diese Rückkehrer, die heute die jüdische Gemeinde neu beleben und von einem Leben in einer modernen jüdischen Gemeinde erzählen, die den langen Schatten von Auschwitz abgelegt hat.
Die Beweggründe dieser neuen Generationen sind vielfältig. Neben praktischer Auslandserfahrung oder einem Studium ist es vor allem der Ruf von Polin, der sie alle noch immer zu vereinen scheint. In Zeiten von diplomatischen Krisen zwischen Israel und Polen scheint diese Entscheidung nicht leicht, da sie einem die Dämonen der Vergangenheit wieder vor Augen führt. Jedoch ist Kraków / Krakau, Galizien und Polen noch immer der Ort ihrer alten Heimat, die bis heute junge Juden und Jüdinnen nach Polen zieht.
Bis heute ist das jüdische Leben nicht wieder in seinen einstigen Umfang zurückgekehrt. Die jüdische Gemeinde Krakaus zählt kaum mehr Mitglieder und von einem lebendigen jüdischen Leben wie in anderen Städten Mittelosteuropas, etwa Budapest, kann kaum die Rede sein. In diesen Tagen sind es wohl die Millionen von Touristen, die von einer jüdischen Stadt sprechen, die es so nicht mehr gibt.
Viel vom jüdischen Leben ist heute nicht mehr geblieben, auch wenn Besuche in einigen der „typisch“ jüdischen Cafés und Restaurants einem etwas anderes suggerieren. Doch gibt es Bemühungen das jüdische Leben abseits von Auschwitz und der Fabrik Oskar Schindlers wieder in den Blick des öffentlichen Lebens zu rücken.
Hierzu zählen vor allem das JCC (Jüdische Gemeindezentrum) mit einem breiten Angebot an Veranstaltung zum Judentum in Kraków / Krakau. Zudem werden hier Jiddisch- und Hebräischkurse angeboten, die vor allem junge und interessierte Polen und Polinnen anziehen.
Doch ist es in den letzten Jahren immer schwieriger geworden, jüdische Narrative einem breiten Publikum zugänglich zu machen. So ist es keine Seltenheit mehr, dass Schüler in polnischen Schulen oft nur noch sehr wenig über das Judentum wissen. Aus diesem Grund bietet das Galicia Jewish Museum die Möglichkeit ergänzend zu dem meist sehr einseitigen Geschichtsunterricht an Polens Schulen, den Schüler in Workshops, Führungen oder Treffen mit Überlebenden des Holocaust, Wissen über polnisch-jüdische Realität zugänglich zu machen. Trotz großer Bemühungen werden viele Angebote hauptsächlich von Schulen aus Großbritannien oder Deutschland genutzt und polnische Schulklassen bleiben im Galicia Jewish Museum eine Seltenheit.
Wenn Ende Juni die großen Touristenscharen Krakaus Straßen überrollen, wird Kazimierz für eine kurze Zeit wieder zu einem Viertel des jüdischen Lebens. Jeden Sommer findet nun seit 1988 das Jüdische Kulturfestival in den Gassen von Kazimierz statt und gehört zu einem der größten Festivals in Polen. Dabei helfen Volontäre aus der ganzen Welt, dieses einzigartige polnisch-jüdische Fest erst zu ermöglichen. Neben zahlreichen Workshops am Tag sind es vor allem die zahlreichen Klezmer Konzerte am Abend, die bei Dämmerung die Gassen Kazimierz wieder mit etwas scheinbar verloren gegangenem beleben.
Wo einst eine Mesusa hing. Heute ist nur noch die verputzte „Narbe“ sichtbar. Eine Mesusa ist ein am Türrahmen befestigter Behälter, in dem sich Textteile der Tora befinden. (Foto: Benjamin Vogel)
Wenn man heute durch Kazimierz geht, dem ehemaligen jüdischen Viertel Krakaus, sieht man sie noch immer: Spuren ehemaliger Nachbarn. Türrahmen, die einem immer noch verraten, wo einst eine Mesusa hing, sind die Überbleibsel, die von jüdischen Nachbarn die einst an diesem Ort lebten, geblieben sind. Meistens sind auch diese nur noch kaum sichtbar und nur ein kleiner Farbunterschied schräg auf der rechten Seite des Türrahmens blieb. Heutzutage sind sie jedoch selten geworden. Die meisten Gebäude wurden bereits mehrfach saniert und somit ging auch diese „Narbe“ unter neuem Putz und Anstrich verloren. Doch man findet noch immer in den Gassen Kazimierz und ganz Polen Hauseingänge, die diese „Narbe“ tragen und mit ihr eine Geschichte.
Zudem gibt es in Kraków / Krakau, Kazimierz noch acht Synagogen, von denen viele mittlerweile einfach nicht mehr als solche erkennbar sind oder anderweitig genutzt werden. So etwa auch bei der Deiches Synagoge, die heute als Schauspiel- und Regisseursschule genutzt wird und nur bei genauer Betrachtung als Synagoge zu erkennen ist. Sie befindet sich versteckt in einem Hinterhof in Kazimierz und wird seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr als Gebetshaus genutzt. Nur ein kleines an der Außenfassade angebrachtes Schild macht heute noch von außen auf diese Synagoge aufmerksam.
Die Deiches Synagoge wurde 1910 erbaut und ist heute als solche kaum noch zu erkennen. (Foto: Benjamin Vogel)
Viel ist nicht mehr geblieben von der einstigen jüdischen Stadt Krakau. Die Geschichte wurde vielfach kommerzialisiert und Strukturen haben sich in den letzten Jahren oft nur langsam entwickeln können. Doch abseits von Touristenmengen gibt es noch Spuren des ehemaligen jüdischen Lebens, auch wenn sie selten geworden sind, lebt Krakau noch immer von diesem Erbe. Daher bleibt es abzuwarten, ob und wie sich das jüdische Leben Krakaus entwickeln wird.
Benjamin Vogel