Auf meinem Weg von Sandomierz nach Krakau flutet das Hochwasser der Weichsel die Straße und zwingt mich so zum Querfeldeinfahren durch die Dörfer. Ein riskantes Unterfangen, denn je weiter ich mich von der Hauptstraße entferne, desto kleiner werden die Wege und umso größer die Schlaglöcher. Irgendwann habe ich die Orientierung verloren und fahre nur noch auf gut Glück Richtung Süden. Die Dörfer hier ringen mit sich selbst um ihre Zukunft, Moderne und Tradition stehen nebeneinander, ungewiss, wer sich durchsetzt. Manch ein modernes Einfamilienhaus steht neben einer alten Holzbaracke, teuere Autos parken neben alten Fiats und Pferdewagen. Plötzlich muss ich laut auflachen. Gleich hinter dem Ortsschild Zalipie sitzt eine Frau mittleren Alters mit Pinsel und Farbtopf vor dem Haus und bemalt die Hauswand bunt mit Blumen. Doch mein Lachen schlägt schnell um in großes Erstaunen. Nicht nur dieses Haus, auch andere Häuser rechts und links strahlen mir mit aufgemalten Blumenmustern auf ihren Wänden entgegen. Ein bemaltes Dorf?
Ich steige aus und spreche die Frau an, die sich mir als Wanda vorstellt. Das sei hier doch normal, sagt sie. Ich wäre schließlich in Zalipie! Dann erzählt sie mir, dass diese Maltradition in der hiesigen Region Powiśle Dąbrowskie schon seit dem Ende des 19. Jahrhunderts existiert und vor allem durch das Schaffen der Volkskunstmalerin Felicja Curyłowa, die von 1903–1974 hier lebte, einen großen Boom erfuhr. Fast alle im Dorf malen ihre Häuser an. Kinder, Eltern, Großeltern. Dabei werden nicht nur die Außenfassaden verziert, sondern auch alle möglichen Wände oder Gegenstände im Innern der Wohnungen. Es gibt einen richtigen Wettbewerb jedes Jahr, aus dessen Anlass am Wochenende nach Fronleichnam eine Jury durchs Dorf zieht und die Werke des letzten Jahres begutachtet. Dabei geht sie von Haus zu Haus, von Zimmer zu Zimmer und beurteilt das Schaffen, um am Ende einen kleinen Preis zu vergeben. Ob die Einwohner ständig neue Häuser bauen müssten, um neue Malflächen zu bekommen, frage ich Wanda. Aber da winkt sie gleich ab. Ach wo, dafür hätte doch keiner Geld! Die alten Kunstwerke werden einfach weiß übermalt und dann neue geschaffen. Oder man sucht sich beim Nachbarn eine Fläche. Schließlich sei das ja auch nicht ihr Haus, das sie gerade bemale, sondern der Hausbesitzer habe sie engagiert.
Nach wenigen Minuten kommt Wanda mit einem großen Schlüssel wieder und führt mich ein Haus weiter ins örtliche Museum. Hier wohnte einst Felicja Curyłowa. Und so sieht das Haus auch aus. Wirklich alles in diesen Räumen ist mit Blumenschmuck bemalt oder mit Blumengebinden verziert. Wände, Kacheln, Teller, Tassen, Bilder, Bettdecken – wohin ich auch schaue. Ein Kunstgarten von unvorstellbarer Pracht. Neben dem Museum gibt es einen kleinen Schulungsraum, wo Gäste oder Schüler aus den umliegenden Dörfern lernen können, wie man diese Blumen malt oder Gestecke bindet.
Es ist kaum zu glauben, dass mich nur der pure Zufall in dieses Dorf geführt hat. Und intuitiv schaue ich mich nach einem großen Parkplatz um, den ich voller Touristenbusse vermute. Es kommen schon immer wieder Touristen ins Dorf, erzählt mir Wanda, aber kein Massentourismus. Das ist auch gut so, sagt sie. Schließlich machen die Bewohner das vor allem für ihr Dorf und zu ihrem eigenen Spaß, nicht als Show für die Außenwelt. Ich mache noch ein Foto von Wanda mit Pinsel und Farbe und setze mich wieder ins Auto, um noch ein bisschen durchs Dorf zu fahren. Und tatsächlich. Fast jedes Haus erstrahlt im Blumenschmuck. Brunnen, Wegkreuze, Scheunen, Hundehütten, sogar Bäume und das Feuerwehrauto tragen ein Blumengewand. Fronleichnam naht, und alles zeigt sich in frischer Farbe. Insgesamt sind heute ungefähr 20 Häuser des Dorfes bemalt, und in vielen Familien wird die Kunst weiterhin gepflegt. Auch die Kirche ist in Blumenschmuck gekleidet, ebenso wie das Gewand des Pfarrers. Alles Ton in Ton aufeinander abgestimmt. Auf dem Friedhof neben der Kirche finde ich das Grab von Felicja Curyłowa. Felicja Curyłowa. Bekannte Volkskunstmalerin, die sich um das Wohl der Gesellschaft verdient gemacht hat, steht auf dem Grabstein, der sich gleich neben dem Eingang befindet. Ein Ehrenplatz also. Und wie zu erwarten, ist auch dieses Grab voller Blumenschmuck.
Vor dem Haus der Maler, einer Art Gemeindehaus, treffe ich auf einen jungen Mann, der sein Kind im Kinderwagen schiebt. Ob er auch Häuser bemale, frage ich ihn, und er lacht. Nein, er ausnahmsweise nicht. Aber es gebe im Dorf durchaus einige Männer, die diese Kunst beherrschten und ausübten. Auch der Kleine im Kinderwagen wird wohl mal Maler werden. Wegen seiner Großmutter. Nachwuchsprobleme gibt es also nicht. Irgendwann steige ich wieder ins Auto, verlasse das Dorf in unbekannte Richtung, wohl wissend, dass ich es ohne eine Karte nie wiederfinden würde. Schade eigentlich. Oder auch nicht. Solche Inseln uneitler Kunstausübung sind selten geworden. Und vielleicht ist es richtig, sie gerade dadurch zu schützen, indem man einfach keine Schilder aufstellt. Für das wahre Kunsterlebnis braucht man dann eben etwas Glück. So wie ich heute.
Zum Buch:
In seinem neuen Buch begibt sich Matthias Kneip erneut auf Entdeckungsreise nach Polen. Diesmal entführt er den Leser in den Ostteil des Landes, der selbst für viele Polen noch unbekanntes Territorium darstellt. Vom Süden in den Norden hat Kneip interessante Menschen und Orte entlang der polnischen Ostgrenze aufgespürt und beschrieben. Meist in entlegenen Orten, deren Bedeutung häufig größer ist als ihre Bekanntheit. Die Texte widmen sich den ersten Erdölförderungsanlagen der Welt zum Beispiel oder den jüdischen Spuren in Lublin, der Stadt Białystok, in der der Erfinder der Kunstsprache Esperanto geboren wurde, oder dem letzten Urwald Europas in Białowieża. Kneip gelingt ein faszinierendes Mosaik aus Bildern und Texten, das neugierig macht und Lust, diesen Teil Polens kennen zu lernen – oder ihn selbst zu besuchen.
“Reise in Ostpolen Orte am Rande der Mitte” ist bereits im Handel!