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Webertradition in Niederschlesien: Ein Weber und elf Apostel

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Von Wałbrzych führt eine malerische Landstraße über Mieroszów nach Chełmsko Śląskie. Der Ort macht einen eher verschlafenen Eindruck, als hätte er die Entwicklung der letzten 25 Jahre in Polen verpasst. Mangels Infrastruktur oder mangels eigenen Interesses. Die größte Attraktion der Ortschaft bilden die sogenannten „12 Apostel“, also ehemalige Weberhäuser, die in Reih und Glied stehen, als hielten sie Händchen am Ende der Durchfahrtsstraße. Auf mich wirken diese Häuser, von denen eins dem anderen gleicht, irgendwie verloren, zufällig übriggeblieben aus einer anderen Zeit. „Wie bestellt und nicht abgeholt“, würde meine Mutter sagen.

Dieser architektonisch eindrucksvolle Komplex aus Holzhäusern stammt noch aus dem Jahr 1707, als die Zisterzienserabtei im nahe gelegenen Grüssau ihn für zwölf tschechische Weberfamilien bauen ließ. Schömberg, wie Chełmsko Słąskie zu deutschen Zeiten hieß, entwickelte sich im 16. und 17. Jahrhundert zu einem blühenden Zentrum der Leinen- und Tuchweberei, von der man sagte, dass die Leinenhemden von hier sogar von den Cowboys im Wilden Westen Amerikas getragen wurden. Im 18. Jahrhundert begann dann der langsame Niedergang dieses Handwerks, das aufgrund ausländischer Konkurrenz und erschwerter Zollbedingungen kaum noch eine Perspektive für sich sah. Sowohl hier in Schömberg, als auch an anderen Orten der Region kam es immer wieder zu Aufständen und Hungerrevolten, weil die wirtschaftlichen Bedingungen ein Überleben der Weber fast unmöglich machten. Erst mit dem Aufstand 1844 in den nahegelegenen Orten Peterswalde und Langenbielau, denen Gerhart Hauptmann später in seinem Drama „Die Weber“ ein literarisches Denkmal gesetzt hat, gelangte das Thema an eine breitere Öffentlichkeit. Doch da war es bereits zu spät. Die moderne maschinelle Produktion begann das Handwerk zu überholen, eine Tradition in dieser Region fand ihr Ende.

Fast. Denn in einem der alten Häuser treffe ich Adam, angezogen in traditioneller Weberkluft und ausgestattet mit einem Humor, den diese Gegend nicht vermuten lässt. „Kommst du nach Osten, kommst du nach Westen, in Schömberg sind Leinen und Kuchen am besten!“, begrüßt er mich in Versen. Wie zum Beweis serviert er mir gleich mal seine Original „Apostelbombe“, ein Stück Torte in Weberhäuserform nach traditioneller Rezeptur. Adam bezeichnet sich selbst als Don Quichotte, seine Frau als Dulcinea und die Behörden und Bewohner des Ortes als seine Windmühlen. Seine kleine Weberstube im Haus des „Apostel Philippus“, in der man nicht nur Kaffee und Kuchen serviert bekommt, sondern zugleich einen tiefen Einblick in die Geschichte des Ortes und seiner Webtradition erhält, bezeichnet er als das letzte Refugium vergangener Zeiten. Wie einst Don Quichotte kämpft Adam darum, dass man der Geschichte des Ortes und der einstmals großen Bedeutung der Weberei hier mehr Aufmerksamkeit schenken möge. Aber vergeblich. „Niemand interessiert sich mehr dafür“, sagt er. Selbst den wenigen Rentnern, die für billigste Miete noch in einem Teil der Apostelhäuser wohnen, sei die Geschichte der Häuser egal. Sogar eine „Gesellschaft für die Entwicklung von Chełmsko Śląskie –   Schlesische Weber” habe er gegründet, die sich um die Wiederbelebung der alten Webtradition bemüht. Aber von den einst vierzig Mitgliedern seien nur noch vier aktiv.

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Ich frage Adam, warum ich draußen nur elf Häuser zähle, obwohl es doch zwölf Apostel waren. Sofort holt er ein Album mit alten Aufnahmen hervor und zeigt mir historische Fotos. Früher stand ganz vorne das Haus des Judas, dann folgten das „Haus ohne Laubengänge” sowie die vier Häuser der Evangelisten, denen sich schließlich die weiteren elf Apostel anschlossen. Aber nach dem Krieg wurde viel zerstört, das Haus des Judas abgebrannt und verheizt. „Man war sich ja nicht sicher, ob die Deutschen nicht vielleicht doch wieder zurückkämen, und so nahm man sich erstmal, was man bekommen konnte”, erzählt mir Adam. Bis auf die verbliebenen elf Apostel steht heute nichts mehr von der einstigen Anlage.

Draußen verbindet die elf Häuser ein überdachter Gang, in dem früher das fertige Leinen verkauft wurde. Im Innenraum der Häuser befanden sich die Werkstatt, eine Küche und ein Wirtschaftsraum, im oberen Stockwerk gab es die Wohnstuben und unter dem Giebel den Lagerraum. Adam geht mit mir in den Garten auf der anderen Seite und zeigt mir den kleinen Bach, der entlang der Häuser fließt und in dem früher der Flachs gereinigt und an dessen Ufern gebleicht und getrocknet wurde. Er bietet mir an, meinen Finger in eine kleine Quelle zu halten: „Wer den Finger hier reinsteckt, lebt bis zu seinem Tod!”, sagt er, und es dauert ein wenig, bis ich den Witz kapiere..

Adam leidet darunter, dass niemand etwas dafür tut, um die Webtradition des Ortes zu pflegen und vielleicht auch touristisch mehr zu nutzen. So bleibt es seiner Frau überlassen, mit gekauftem Leinen ein paar Kunstwerke zu fertigen, die er in seinem Laden anbieten kann. „Für 250.000 Euro kann man alle Häuser erwerben”, sagt Adam. Aber niemand wolle sie. Schon gar nicht mit Mietern. Als doch mal jemand Interesse äußerte, zog man das Angebot zurück. Dabei liegen um den Ort herum in unmittelbarer Nähe zahlreiche Touristenattraktionen, wie die Adersbach-Weckelsdorfer Felsenstadt in Tschechien. Doch es fehlen ein paar Hundert Meter Straße, um dorthin zu gelangen..

Obwohl der Ort Schömberg seit dem 13. Jahrhundert Stadtrecht hatte, entzog man es ihm 1946 und seitdem dümpelt er vor sich hin. Die Rathausuhr habe er vor einigen Jahren mit einem Freund repariert, erzählt Adam, aber man musste sie damals alle 32 Stunden neu aufziehen. Das erledigten dann die wenigen Touristen für ihn, die dafür sogar noch bereit waren, Geld zu zahlen. Er musste nur die Erinnerungsfotos schießen. Jetzt überlege er, nach Görlitz zu ziehen und dort sein Glück zu versuchen. Doch seine Weberinsel hier möchte er nur ungern aufgeben. Er fühlt sich dem Erbe dieser Tradition verpflichtet, auch wenn er kaum davon leben kann. Und so steht er wohl auch weiterhin den durchfahrenden Touristenbussen aus Deutschland, Holland, Polen und Tschechien bereitwillig mit Auskünften zur Verfügung. Sogar Gedichte hat er geschrieben, die die Geschichte der Stadt in Verse fassen. Als er mir eines vorträgt, bin ich beeindruckt. Es offenbart viel Wissen und Verständnis, ist humorvoll und keineswegs kitschig.

Als wir uns verabschieden, kommen zwei Motorradfahrer in schwarzer Lederkluft und mit schweren Helmen in die Stube. Wie aus einer anderen Welt. Sie schauen kurz rein, blicken sich um, gehen wieder raus und rauschen weiter auf ihren großen Maschinen.

Ich spaziere noch zum nahegelegenen Marktplatz. Auf einem kleinen, ziemlich provisorisch wirkenden Aushang auf einer Litfasssäule steht geschrieben: Weinbergschnecken: leicht gesammelt, gut verkauft! Dann folgt die Adresse, wo man sie abgeben kann. Im Park hinter dem Marktplatz liegen einige Schnecken herum und ich überlege einen Moment, dem Angebot nachzugehen. 55 Cent bekomme ich für ein Kilo. Aber das lohnt sich nicht. Genauso wenig, wie heute hier noch Leinen zu weben.

 

 

Zum Buch:

Nach seinen Büchern „Polenreise“ (2007) und „Reise in Ostpolen“ (2011) reist Matthias Kneip erneut nach Polen, diesmal in den Westen des Landes. Von Kołobrzeg im Norden Richtung Wałbrzych im Süden nimmt er den Leser mit auf eine Reise durch eine Region, die ebenso von deutscher wie polnischer Geschichte geprägt wurde. In poetischen Essays erzählt Kneip von spannenden Biografien und kuriosen Ortschaften und berichtet von eindrucksvollen Begegnungen. Wie gehen die Menschen und Orte in diesem Teil Polens mit ihrer Geschichte um? Welche neuen Wege schlagen sie ein? Eine spannende Lektüre für jeden Leser und ein Buch, das Lust macht, sich selbst mal auf die Reise zu begeben… 

“Reise in Westpolen. Orte, die Geschichte erzählen” ist bereits im Handel!

 

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