Seit Donnerstag protestieren Bürgerinnen und Bürger auf den polnischen Straßen. Der Grund ist die Entscheidung des Verfassungsgerichts, dass Schwangerschaftsabbrüche aufgrund schwerer Fehlbildungen des ungeborenen Kindes als verfassungswidrig und somit illegal erklärte.
Die Begründung
Das polnische Verfassungsgericht hat das bislang geltende Gesetz als Verfassungswidrig erklärt. Bis dato war ein Schwangerschaftsabbruch möglich, falls ein hohes Risiko einer schweren und dauerhaften Behinderung des Fötus bestand oder einer unheilbaren Krankheit des Kindes.
“Diese Regelung bedarf nicht einer Gewissheit, sondern nur einer Wahrscheinlichkeit einer schweren und dauerhaften Behinderung oder einer unheilbaren Krankheit, die lebensbedrohlich für den Fötus ist”, begründete Richter Justyn Piskorski. “Die Würde des Menschen ist die Quelle der Rechte, sie bedarf keiner Legitimierung, wird nicht von Staaten verliehen. Die Verfassung garantiert ihr den absoluten Schutz. Die staatlichen Behörden sind besonders verpflichtet, die Würde zu schützen”, fügte er hinzu mit dem Verweis auf den Artikel 38 der polnischen Verfassung, der jedem Menschen den Schutz des Lebens garantiert.
Das Verfassungsgericht hat auch die Folgen des Urteils angesprochen und hingewiesen, dass der Gesetzgeber das Gesetz an das Urteil anpassen sollte. Dabei ist laut den Richtern die äußerst schwere Lage der Mütter zu beachten und somit eine reale Hilfe nötig. Mit der Erziehung eines schwerkranken Kindes darf der Staat die Eltern alleine nicht belasten.
Nach der Urteilssprechung gibt es nur zwei Voraussetzungen, die eine legale Abtreibung ermöglichen – falls die Schwangerschaft gesundheitsgefährndend für die Frau oder das Ergebnis einer Straftat (Vergewaltigung) ist.
Wichtig: Das Urteil ist erst dann Rechtskräftig, wenn es im polnischen Gesetzesblatt publiziert wird. Das wurde es aber noch nicht (Stand 27.10.2020).
Die Folgen
Die Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichts löste eine Protestwelle im ganzen Land aus. Ab Donnerstag demonstrieren Bürgerinnen und Bürger sowohl in großen als auch in kleinen Städten.
Am Sonntag versammelten sich die Demonstranten u.a. vor dem Haus von Jarosław Kaczyński und vor dem Parteisitz in Warschau/Warszawa und protestierten gegen die Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS).
Protestaktionen gab es auch vor den Kirchen. Die Demonstranten sind in Gotteshäuser mit Transparenten während der heiligen Messe hineingegangen. An die Wände und Türen der Kirchen wurden Parolen, wie “Abtreibung ohne Grenzen”, “Meine Wahl” oder “Die Hölle der Frauen” geschmiert.
Die Statistik
Laut den Daten aus dem polnischen Gesundheitsministerium wurden 2019 in Polen 1110 legale Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt. In 1074 Fällen lag eine eugenische Indikation vor.
Der zweite Anlauf
Die Verschärfung des Abtreibungsgesetzes sorgte bereits 2016 für eine Protestwelle im Land. In ganz Polen gingen schwarzgekleidete Bürgerinnen und Bürger auf die Straßen, um sich gegen eine mögliche Gesetzesänderung bezüglich Schwangerschaftsabbrüchen zu wehren. Der sog. Czarny Protest (dt. Schwarzer Protest) brachte Erfolg und die Initiative scheiterte bei einer Abstimmung im Parlament.
Die Entscheidung vom Donnerstag ist die erste ernste Abänderung vom sog. Abtreibungskompromiss, der 1993 ausgearbeitet wurde. Die Verhandlung in dieser Sache wurde im Verfassungsgericht mehrmals vertagt.