Ein Beitrag von Nikolas J. Schmidt – polenverstehen.de
Am vergangenen Wochenende demonstrierten „Hunderttausende“ Gegner der polnischen Regierung durch die Warschauer Innenstadt – oder so zumindest die Schlagzeilen in den deutschen Medien. Tatsächlich aber ist sehr strittig, wie viele Menschen zum Europa-Tag auf der Straße waren und wer von ihnen wirklich gegen die Regierung demonstrierte.
Wie bereits berichtet, organisierte den Marsch das „Komitee zur Verteidigung der Demokratie“ (KOD) gemeinsam mit den parlamentarischen Oppositionsparteien. Die Demonstration sollte sich wie bei den mittlerweile regelmäßigen samstäglichen Veranstaltungen des KOD gegen die regierende Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) richten – sie war aber auch Teil der Feierlichkeiten des Europa-Tages, der am Jahrestag der Pariser Rede von Robert Schuman am 9. Mai abgehalten wird. Traditionell findet in Warschau deshalb jedes Jahr die sogenannte „Schuman-Parade“ statt.
Bürgerplattform-Meisterin vs. PiS-lizei?
Das Amt der Bürgermeisterin von Warschau gab bekannt, das ingesamt 240.000 Menschen an der Demonstration teilgenommen hätten. Bürgermeisterin Hanna Gronkiewicz-Waltz ist eine prominente Politikerin der Bürgerplattform. Sie hat das KOD von Beginn an unterstützt und nahm bei den ersten Demonstrationen im November 2015 nicht nur selber teil, sondern motivierte auch einen Großteil ihrer Mitarbeiter dazu. Die Polizei hingegen sprach von 30-45.000 Teilnehmern. Die Polizei untersteht – anders als in Deutschland – direkt der Zentralregierung. In der Presse machten sich ob dieses eklatanten Unterschieds sofort Propaganda-Vorwürfe breit. Die jeweiligen Zahlen seien maßlos unter- bzw. übertrieben, um die jeweilige politischen Linie zu untermauern. Die Organisatoren der Demonstration und ihnen zugeneigte Medien sprachen von der größten Demonstration seit 1989. Das polnische staatliche Fernsehen gab ihr kaum Aufmerksamkeit, da zeitgleich sowohl eine Gegendemonstration mit dem Titel „Odwagi, Polsko!“ (Nur Mut, Polen!) als auch ein Chat mit dem PiS-Vorsitzenden Jarosław Kaczyński stattfand. In den sozialen Medien machten sich einige daran, herauszufinden, wie viele Menschen denn nun tatsächlich auf der Demonstration gewesen waren. Eine Video-Analyse kam auf ca. 35.000-53.000 Teilnehmer.
Eine anderer Nutzer schätzte mit ähnlichen Überlegungen die Teilnehmerzahl auf 213.360 Teilnehmer.
Andere Zählmethoden – unterschiedliche Zeitpunkte
Die mit Abstand plausibelste Erklärung kam bisher vom Polnischen Radio, das sich auf Aussagen des Polizeisprechers und des Vize-Bürgermeister bezieht. Danach kamen die unterschiedlichen Angaben der beiden Stellen vor allem daher, dass sie unterschiedliche Zeitpunkte beurteilen. Die Polizei beziehe sich auf die Anzahl der Menschen „die zum Höhepunkt der Demo auf dem Pilsudski-Platz anwesend waren“, während die Stadt versucht habe zu schätzen, wie viele Menschen insgesamt an der Parade teilgenommen haben – wenn auch nur temporär. Der Sprecher der Warschauer Polizei Marcin Mrozek sagte, dass „die Rotation bei dieser Demo sehr groß war“. Doch damit ist nun zweifelhaft, ob es sich bei all diesen Teilnehmern um glühende Regierungsgegner handelt. Es ist durchaus möglich, dass auch einige Touristen und Schaulustige darunter waren. Immerhin hatte die Schuman-Parade in den vergangenen Jahren eher den Charakter eines Straßenfestes. Wenn seit Jahren in Umfragen stets über 80% der Bevölkerung die Mitgliedschaft Polens in der EU befürworten, wirkt es auch merkwürdig, mithilfe des Europa-Tages eine Spaltung zu propagieren, wie es beispielweise der ehemalige Außenminister und Parlamentspräsident Radosław Sikorski (PO) tut.
Od wczoraj koledzy z PiS wiedzą, że europejska Polska nie akceptuje ich kierunku oraz metod i że kiedyś może ich rozliczyć.
— Radosław Sikorski (@sikorskiradek) 8. Mai 2016
Radosław Sikorski: „Seit gestern wissen die Kollegen aus der PiS, dass das europäische Polen ihre Richtung sowie ihre Methoden nicht akzeptiert und es irgendwann mit ihnen abrechen kann.“ (Übersetzung des Autors)
.@nikschm Tak. Członkowie klubu parlamentarnego partii rządzącej chcą wyjścia Polski z Unii Europejskiej.
— Radosław Sikorski (@sikorskiradek) 8. Mai 2016
Nikolas J. Schmidt: „Gibt es denn ein „nichteuropäisches Polen“? Meint denn jemand, dass Polen nicht in Europa ist oder sogar dass es nicht in der [Europäischen] Union sein soll?“ Radosław Sikorski: „Ja. Mitglieder der Parlamentsfraktion der regierenden Partei wollen den Austritt Polens aus der Europäischen Union.“
.@sikorskiradek Którzy posłowie dokładnie? Mogłyby Pan kogoś cytować? Jest coś w programie partii? Tak tylko z ciekawości dziennikarskiej.
— Nikolas J. Schmidt (@nikschm) 8. Mai 2016
Nikolas J. Schmidt: „Welche Abgeordneten genau? Könnten Sie jemanden zitieren? Ist etwas im Parteiprogramm? Nur so aus journalistischer Neugier.„
@nikschm Na przykład pani profesor Krystyna Pawłowicz.
— Radosław Sikorski (@sikorskiradek) 8. Mai 2016
Radosław Sikorski: „Zum Beispiel Frau Professor Krystyna Pawłowicz.„
@m_krakowiaczek @nikschm Myślę, że pan poseł @stpieta też raczej byłby za wyjściem z Unii.
— Radosław Sikorski (@sikorskiradek) 8. Mai 2016
Radosław Sikorski: „Ich glaube, dass auch Herr Abgeordneter @stpieta [Stanisław Pięta] eher für einen Austritt aus der [Europäischen] Union wäre.“
@m_krakowiaczek @sikorskiradek @nikschm @pisorgpl Bez złudzeń. Ani Pani profesor Pawłowicz,ani ja nie proponujemy wyjścia z UE.
— Stanisław Pięta (@stpieta) 8. Mai 2016
Stanisław Pięta: „[Machen Sie sich] keine Illusionen. Weder Frau Professor Pawłowicz noch ich schlagen einen Austritt aus der EU vor.“
@stpieta @m_krakowiaczek @nikschm To znaczy godzicie się na ‚okupację‘ Polski?!
— Radosław Sikorski (@sikorskiradek) 8. Mai 2016
Radosław Sikorski: „Das heißt, ihr seid einverstanden mit der ‚Besetzung‘ Polens?“
Der letzte Tweet spielt vermutlich auf die Aussagen von Janusz Korwin-Mikke an. Der Europaparlamentarier sprach im vergangenen Jahr mehrmals davon, dass sowohl „als Polen unter der Besetzung der Polnischen Volksrepublik“ war, als auch jetzt „unter der Okkupation der Europäischen Union, die grundsätzlichen Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit“ gebrochen wurden. Der langjährige Aktivist der politischen Rechten und mehrmals erfolglose Präsidentschaftskandidat ist in der Vergangenheit häufiger durch kontroverse Aussagen über die Todesstrafe und Frauenrechte sowie Nazi-Vergleiche aufgefallen. Im Europäischen Parlament wollte keine Fraktion ihn aufnehmen. Er hat keinerlei Verbindung zur PiS. Die o.g. Sejm-Abgeordnete Krystyna Pawłowicz ist allerdings Mitglied der PiS und sagte 2013 noch „Ich bin von Grund auf gegen die Europäische Union“ und dass die EU schlimmer als der Kommunismus sei.
Europa – ja! Aber was für eins?
Im gleichen Interview mit der Zeitung Rzeczpospolita sagte sie aber auch: „Die PiS war für einen Eintritt Polens in die Union, aber in eine solche [Union], die nach den alten Prinzipien handelt. Inzwischen entwickelt sich die Union in eine Richtung, die uns nicht gefällt. Wir wollen eine Union souveräner Staaten und keine Föderation.“ Mit dieser Sicht der EU hat sich auch die Regierung mehrfach deutlich zu Europa bekannt. Die Opposition sieht Europa anders. Die Bürgerplattform ist in ihrer Regierungszeit vor allem immer dem deutschen Kurs gefolgt und hat sich zur stärkeren Integration und dem Prinzip der „ever closer union“ bekannt. Wobei hier auch anzumerken ist, dass beispielweise sie den Eintritt in die Währungsunion mehrfach heraus gezögert hat – aus guten Gründen. Die PiS steht eher für ein „Europa der Vaterländer“, wie es Charles de Gaulles einst formulierte und will künftig einerseits weniger Souveränität nach Brüssel abgeben, gleichzeitig aber auch eine aktive Rolle spielen und die Politik der Union mitgestalten. Insofern ist die Schuman-Parade ingesamt eher positiv zu sehen: in Polen herrschen zwar verschiedene Ansichten zur Ausgestaltung der Europäischen Union, aber ein breites Bekenntnis zu Europa. Die politische Debatte nimmt so viele Menschen mit, wie seit langem nicht. Doch leider ist sie mitunter auch scharf und reißerisch. Spaltende Rhetorik sollte auf beiden Seiten vermieden werden. Und deutsche Medien täten gut daran, nicht nur die eine Seite darzustellen, sondern neutral, sachlich und umfassend zu berichten.
(c) Nikolas J. Schmidt
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