Am östlichen Rand der Stadt Nowa Sól in der polnischen Wojewodschaft Lubus stehe ich plötzlich einem über 7 Meter hohen Grizzly gegenüber. Ein Grizzly mitten in Niederschlesien. Noch dazu der größte seiner Art auf der Welt. Aber er ist freilich nur aus Plastik. Und nicht allein. Zahlreiche Gartenzwerge, Elefanten und Giraffen sowie Dinosaurier in Originalgröße, die gefährlich brummen, wenn man ihnen zu nahe kommt leisten ihm Gesellschaft. Der freie Eintritt in den „Park Krasnala“, also „Zwergenpark“, zieht Hundertschaften spielender Kindern an, die hier am Sonntag zwischen den Figuren umher tollen oder auf einem der Elektroautos Platz nehmen. Dabei sind die wenigsten Figuren in Zwergengröße.
Die Hauptattraktion des Parks steht jedoch etwas abseits und heißt „Soluś“, was übersetzt so viel heißt wie „Salzchen“. „Salzchen“ steht hier seit dem Jahr 2009 und hat es bereits ins Guinessbuch der Rekorde geschafft: mit 5,41 Metern gilt er als größter Gartenzwerg der Welt. Ein Riesenzwerg sozusagen. Dass die Bewohner von Nowa Sól es letztlich ihm zu verdanken haben, dass es der Stadt heute wirtschaftlich gut geht, wissen nur die wenigsten von ihnen.
Bis 1945 hieß der Ort noch Neusalz an der Oder, weil ab dem 17. Jahrhundert hier Salz gesiedet wurde. Anfang des 19. Jahrhunderts folgten dann große Industriebetriebe, wie die Fadenfabrik „Oder“ oder die Metallurgiewerke „Dozamed“, die entscheidend zur Industrialisierung des Ortes beitrug. Doch die politische Wende 1989 haben viele der großen Unternehmen nicht überlebt. Sie gingen insolvent, tausende von Arbeitnehmern verloren ihre Jobs und die gewaltigen Gebäudekomplexe wurden dem Verfall preis gegeben.
Irgendjemand kam dann Mitte der 90er Jahre auf die Idee, in einer Garage Gartenzwerge herzustellen. Die Idee war ebenso absurd wie erfolgreich. Die Nachfrage erwies sich als so groß, dass in Nowa Sól bald mehrere hundert kleine Betriebe entstanden, die letztlich Tausenden arbeitslos gewordenen Einwohnern nun einen neuen Job verschafften: Gartenzwerge gießen. Das Angebot richtete sich vor allem an deutsche und andere westliche Touristen. Viele von ihnen reisten nicht nur ins Nachbarland, sondern auch in die alte Heimat, und möglichweise weckten die kleinen Zwerge sentimentale Erinnerungen. Ich kann mich selbst noch erinnern, wie wir Anfang der 90er Jahre auf polnischen Landstraßen eine Zwergenparade nach der anderen passierten und wunderte mich, wer diese kitschigen Genossen tatsächlich kaufte Doch das Geschäft mit den Zwergen boomte. Dass damals auch tausendfach Raubkopien von Modellen gefertigt wurden, die eigentlich in Deutschland urheberrechtlich geschützt waren, interessierte dabei kaum jemanden.
Das Konzept funktionierte freilich nicht auf Dauer. Doch es verschaffte den Einwohnern von Nowa Sól genügend Zeit, um sich neuen Idee zuzuwenden und in anderen Betrieben unterzukommen. Nur einige wenige Firmen im Ort entwickelten die Idee der Gartenzwerge weiter. Eine davon ist die Firma „Malpol“, die ich im alten Neusalzer Industriegebiet aufsuche und die von Gartenzwergen auf Saurier und andere übergroße Dekorationstiere spezialisiert hat. Man muss eben mit der Zeit gehen.
Die Gegend, in der ich die Firma suche, wirkt gespenstisch. Ein Labyrinth gewaltiger, völlig verfallener Industriegebäude lässt kaum vermuten, dass es hier Menschen gibt, geschweige denn eine Firma, die Zwerge und Saurier produziert. Irgendwann finde ich den Parkplatz der Firma doch und bereue die einbrechende Dunkelheit so spät am Nachmittag. Als ich aussteige, starren mich die grünen Augen eines autogroßen Grashüpfers an, während neben ihm ein drei Meter hoher Saurier, den ich aus Jurassic Park kenne, versucht über den Zaun in die Freiheit zu springen. Ein anderer Saurier beißt dagegen in eine 6 Meter lange Weinflasche und als ich mich umdrehe, blicke ich in ein aufgerissenes Maul eines noch nicht lackierten Tyrannosaurus Rex, der eigentlich einen weißen Kombibus als Abendessen ins Visier genommen hat. Hätte ich meinen Fotoapparat nicht dabei, ich wäre mir später sicher, das Szenarium geträumt zu haben. So aber schieße ich sicherheitshalber ein paar Fotos und betrete durch eine alte Tür die Industrieruine.
Marcin, einer der Geschäftsführer von Malpol erwartet mich schon. „Das waren bis 1990 die Produktionsstätten der Fadenfabrik „Oder“, bevor nach der Wende alles verfallen ist“, erklärt er mir und hat schon seinen Computer hochgefahren. Als ich ihn frage, in welche Länder Europas er seine Figuren verkauft, lacht er nur. „Europa? Wir produzieren für die ganze Welt!“ Und dann zeigt er mir eine halbe Stunde lang, wo seine Tiere und Monster überall stehen. Und zugegeben, die Liste ist beeindruckend. China, Russland, Amerika, Neuseeland, überall reißt man sich um seine Fieberglasdekorationen. Coca Cola und Pepsi zählen zu seinen Kunden. Der Verkaufsschlager seien aber Kühe, sagt Marcin, die durch die weltbekannte „Cowparade“ Konjunktur haben. In vier Jahren habe die Firma 36 000 Stück davon verkauft. Und eine vier Meter hohe „cowlumbus“ der Firma steht sogar auf einem Globus in der Fußgängerzone in Barcelona.
Es fällt mir schwer vorzustellen, wie in diesen Baracken soviele dieser Tiere und Figuren hergestellt werden sollen. Das Rätsel löst sich auch nicht, als Marcin mit mir durch die verfallenen Hallen spaziert, um mir die Produktionsstätten zu zeigen. Die Umgebung hier drinnen ist mindestens genauso gespenstisch wie der Parkplatz draußen. In einer großen Halle drängeln sich im Halbdunkeln die unterschiedlichsten, zur Lackierung vorgesehenen Skulpturen auf engstem Raum. Ein kleiner Saurier schleckt an einem Rieseneis, ein Reh liegt quer auf einem Löwen, dessen Kopf auf den Euter einer Kuh blickt.
Elf Künstler entwerfen hier in Handarbeit die Formen, dann folgt der Guss- und Lackierprozess. In der Lackiererei stoßen wir auf zwei Arbeiter mit Masken und Schläuchen, in der Mitte steht eine Kuh wie ein Auto in einer Waschanlage. Kaum zu glauben, was von hier aus alles in die Welt verschickt wird.
Den Park „Krasnala“ hat die Firma Malpol als Hommage an jene Zeiten errichtet, in denen die Gartenzwerge der Stadt geholfen haben, schwierige Zeiten zu überstehen. Und während „Salzchen“ mittlerweile eine ebenso große Gefährtin zur Seite gestellt bekommen hat, blickt unweit von ihm eine kleine, strickende Zwergenoma samt buchlesendem Zwergenopa auf einer Bank sitzend ziemlich skeptisch in die Höhe. Über ihnen erhebt sich ein lebensgroßer Tyrannosaurus Rex und faucht die Kinder an. Die Zukunft hatten sich die beiden irgendwie anders vorstellt.
Zum Buch:
Nach seinen Büchern „Polenreise“ (2007) und „Reise in Ostpolen“ (2011) reist Matthias Kneip erneut nach Polen, diesmal in den Westen des Landes. Von Kołobrzeg im Norden Richtung Wałbrzych im Süden nimmt er den Leser mit auf eine Reise durch eine Region, die ebenso von deutscher wie polnischer Geschichte geprägt wurde. In poetischen Essays erzählt Kneip von spannenden Biografien und kuriosen Ortschaften und berichtet von eindrucksvollen Begegnungen. Wie gehen die Menschen und Orte in diesem Teil Polens mit ihrer Geschichte um? Welche neuen Wege schlagen sie ein? Eine spannende Lektüre für jeden Leser und ein Buch, das Lust macht, sich selbst mal auf die Reise zu begeben…
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