Als die Gemahlin des preußischen Königs Wilhelm III, Königin Luise, im Jahr 1800 das Riesengebirge besuchte, soll sie angeblich auf der Schneekoppe gestanden und ausgerufen haben: „Ach, wäre doch dort unten Berlin!“. Und nicht nur sie war von der Lage und der Landschaft des Hirschberger Tals begeistert. Wer im Preußen des 18. und 19 Jahrhunderts etwas auf sich hielt, baute oder erwarb in dieser Gegend ein Schlösschen, um es als idyllischen Sommersitz nutzen zu können.
So ist es wenig verwunderlich, dass ich auf meiner Reise durch das Hirschberger Tal mehr Wegweiser mit Namen von Schlössern, als von Ortschaften finde. Angeblich stehen nirgendwo in Europa so viele Schlösser und Burgen auf so engem Raum zusammen wie hier.
Auch Schloss Erdmannsdorf, das im heutigen Mysłakowice steht, diente einst dem preußischen König Wilhelm IV als Sommersitz. Bereits König Wilhelm III. hatte das Schloss gekauft und nach Plänen von Karl Friedrich Schinkel umbauen lassen. Doch meine Überraschung ist groß, als ich es besichtigen möchte und statt Prunksälen eine Schule darin finde.
„Der preußische Hof hatte das Schloss 1909 verkauft, dann wurde es nach dem Zweiten Weltkrieg bis auf die Grundmauer geplündert“, erzählt mir Rektor Andrzej, der mich in seinem Büro empfängt. „Hier, wo wir gerade sitzen, war einst das Badezimmer!“, fügt er hinzu und ich versuche mir vorzustellen, gerade in der Badewanne des preußischen Königs Platz genommen zu haben. Die Geschichte schlägt schon sonderbare Pirouetten und es fällt mir schwer zu glauben, dass diese Mauern einmal dem preußischen König beim Baden zugesehen haben. 1953 wandelten die Polen das Schloss in eine Schule um, die Wände wurden neu gezogen, das Innere insgesamt umgestaltet und den Bedürfnissen einer Schule angepasst. Doch manches, wie einige der äußeren Fenster oder die Bodenfließen im Erdgeschoss, ist noch im Originalzustand erhalten. „Die inneren Fenster“, erzählt Rektor Andrzej, „wurden hingegen ausgetauscht, denn das Schloss diente ja als Sommersitz und konnte kaum beheizt werden. Die Schule musste aber schließlich auch im Winter stattfinden können…“ Auch die gusseisernen Stützbalken der Decke, die weltweit erstmals in diesem Schloss verwendet wurden, sind noch vorhanden und bei genauem Hinsehen erkennbar.
Aber letztlich, so Rektor Andrzej, sei so ein Schloss insgesamt nicht optimal, um als Schule genutzt werden zu können.
Wir gehen über eine Treppe ins Parterre, vorbei an einer Wand mit den Portraits polnischer Könige. Ob das die polnische Antwort sei auf die deutsche Geschichte dieses Schlosses, frage ich Rektor Andrzej, der lachen muss. Nein, reine Dekoration. Die Schüler von heute würden nicht mehr in historischen Dimensionen denken, im Gegenteil. Zwar lernten sie im Fach Regionalgeschichte die wichtigsten Daten und Fakten zum ehemals deutschen Schloss, das heute ihr Schulhaus bildet. Aber emotional sei ihnen die Vergangenheit nicht wichtig. Zu Deutschland hätten sie ein sehr positives Verhältnis, nicht zuletzt dank des Schüleraustausches mit dem Gymnasium in der Partnerstadt Leopoldshöhe in Nordrheinwestfalen, mit dem seit Jahren enge Kontakte gepflegt werden. Außerdem würden alle Schüler hier Deutsch als Pflichtsprache lernen, daran könnten auch die polnischen Könige im Treppenhaus nichts ändern. „Allerdings“, so erzählt mir Rektor Andrzej, während er eine Tür öffnet, „finden die Schüler es immer noch komisch, dass sie in einem ehemals königlichen Speisesaal heute Sportunterricht hätten!“. Plötzlich stehen wir mitten in einer Turnhalle, deren kunstvolle Fensterbögen unschwer erkennen lassen, dass sie sich hier nicht wohl fühlt. Ihre Maße sind irgendwie zu schmal und zu lang, um sinnvoll in ihr einer sportlichen Ertüchtigung nachgehen zu können. Die drei Fenster am Ende der Halle gäben eigentlich den Blick frei auf die Schneekoppe, was dem königlichen Speisen sicher angemessen war. Jetzt aber hängt ein Basketball über den Fenstern und Sportgeräte sowie aufgestellte Turnmatten verstellen die Aussicht. Ich kann es kaum glauben. Ein königlicher Speisesaal als Turnhalle, ein Schloss als Schule, im königlichen Badezimmer das Direktorat. Die Zeiten haben sich wahrlich geändert.
„Natürlich träumen wir von einem neuen Gebäude, selbst ein Modell haben wir schon!“, erzählt mir Rektor Andrzej, und fügt im gleichen Satz hinzu: „Andererseits hat diese Schule ein Flair, wie es wohl keine zweite Schule in Polen hat“. Da hat er recht.
Durch ein Klassenzimmer, in dem gerade unterrichtet wird, betreten wir den königlichen Balkon, von dem aus wir einen herrlichen Blick auf den Schlosspark und den Schulhof haben. In der Mitte von letzterem steht ein kleiner Brunnen mit einer Säule. „Die Säule stammt aus Pompeji und war ein Geschenk des Königs von Neapel an den preußischen König“, sagt Rektor Andrzej. Sie blieb lange Zeit verschollen, bis man sie in den 6oer Jahren im Rahmen von Wiederherstellungsarbeiten entdeckte. Die Schüler der Schule legten sie damals frei und setzten sie in den Brunnen ein. „Wir sind auch die einzige Schule Polens, in deren Pausenhof ein Brunnen mit einer Säule aus Pompeji steht“, meint Rektor Andrzej lachend. Und ein bisschen stolz.
Kein Zweifel, diese Schule in einem ehemaligen preußischen Schloss dürfte einmalig sein in Polen. So unpraktisch das für den Unterricht sein mag, als Schüler wird man seine Schulzeit nicht vergessen. Ich frage Rektor Andrzej, wie denn die deutschen Schüler reagierten, wenn sie hier ankommen und die Schule sehen. Seine Antwort ist kurz und aufrichtig: „Sie finden das cool!“.
Am Ende unseres Rundgangs bin mir nicht sicher, ob Rektor Andrzej sich den Umzug in ein neues Gebäude wirklich wünscht. Aus der Sicht eines Rektors, der für den Unterricht und das Wohlergehen seiner Schüler verantwortlich ist, wäre das verständlich. Sein mitreißender Enthusiasmus für die Geschichte der Region sowie sein Stolz auf die Originalität seiner Schule lassen mich aber zweifeln. Welcher Schulrektor kann schon behaupten, Schlossherr zu sein?
Als ich ins Auto steige, bemerke ich ein Storchennest samt Storchenfamilie auf einem der alten Kamine des Speisesaals. Die Störche haben sich eingerichtet auf den Resten der Schlossgeschichte. Weder das Aufschlagen der Basketbälle im Innern der Turnhalle, noch das Pausengeschrei der Schüler stört ihre Idylle. Sie blicken seit Jahrhunderten auf die Schneekoppe und tun so, als wäre nichts passiert.
Zum Buch:
Nach seinen Büchern „Polenreise“ (2007) und „Reise in Ostpolen“ (2011) reist Matthias Kneip erneut nach Polen, diesmal in den Westen des Landes. Von Kołobrzeg im Norden Richtung Wałbrzych im Süden nimmt er den Leser mit auf eine Reise durch eine Region, die ebenso von deutscher wie polnischer Geschichte geprägt wurde. In poetischen Essays erzählt Kneip von spannenden Biografien und kuriosen Ortschaften und berichtet von eindrucksvollen Begegnungen. Wie gehen die Menschen und Orte in diesem Teil Polens mit ihrer Geschichte um? Welche neuen Wege schlagen sie ein? Eine spannende Lektüre für jeden Leser und ein Buch, das Lust macht, sich selbst mal auf die Reise zu begeben…
“Reise in Westpolen. Orte, die Geschichte erzählen” ist bereits im Handel!